Das Persönliche ist politisch, aber Therapie ist es nicht? Cui bono – wem nützt das?

GestalttherapeutInnen sehen das Selbst als Funktion des Organismus-Umwelt-Feldes im Kontakt. Doch allzu oft reduzieren wir dies auf die unmittelbaren lebenspraktischen Umstände und verlieren größere Einflüsse aus den Augen oder halten sie für zu abstrakt, als dass sie in der Therapie relevant sein könnten. Deshalb stelle ich in diesem Artikel v.a. zwei Fragen:

  • Wie sehen wir gesellschaftliche, ökonomische und politische Einflüsse auf das Individuum und dessen lebenspraktische Umstände?
  • Welche spezifischen Bedingungen, Anforderungen, Entwicklungschancen und Beschränkungen erfahren unsere KlientInnen heute?

Dabei beziehe ich mich v.a. auf den Soziologen Baumann, der von einer ‚flüssigen‘ Moderne spricht. Ich komme zu dem Schluss, dass wir GestalttherapeutInnen uns mit den praktischen Lebensbedingungen unserer KlientInnen konsequent ganzheitlich auseinandersetzen sollten. Wir sind zudem mit ihren politischen Vorstellungen öfter konfrontiert als wir z.Z. gewahr sind. Eine Abstinenz hiervon oder ein Verbot solcher Themen in der Therapie wäre lebensfern und würde weder ihnen noch uns helfen. In Ausbildung, Supervision und Praxis sollte auch die Gestalttherapie achtgeben, dass sie nicht zu einem Reparaturbetrieb für gesellschaftlich produzierte ‚Störungen‘ degeneriert, denn auch Aufrichten kann Zurichten sein (vgl. Bröckling, 2013, 214).

SCHLÜSSELBEGRIFFE:

Ich-, Es- bzw. Persönlichkeitsfunkion, flüssige Moderne, Individualismus, Politik, Entfremdung; neoliberal, neokonservativ, Rechtsradikale

ABSTRACT:

Gestalt therapists see the self as a function of the organism-environment field in contact. But all too often we reduce this to the immediate practical circumstances of life and lose sight of larger influences or consider them too abstract to be relevant in therapy. That is why I am focussing on two questions in this article:

  • How do we see social, economic and political influences on the individual?
  • What specific conditions, requirements, development opportunities and restrictions do our clients experience today?

In doing so, I refer primarily to the sociologist Baumann, who speaks of a ‚liquid modernity‘. I conclude that we Gestalt therapists should deal with the whole of our clients’ practical living conditions and that we are confronted with their political views more often than we are currently aware of. Abstinence from or a ban of such topics in therapy would be far removed from life and would help neither our clients nor us. In training, supervision and practice we should ensure that Gestalt therapy does not degenerate into a repair centre for socially produced ‚disorders‘, because: straightening up can also be adjusting (cf. Bröckling, 2013, 214).

KEYWORDS:

I-, it- and personality functions, liquid modernity, individualism, politics, alienation; neoliberal, neoconservative, radical right

Streifzüge durch Felder der GT – Körper – Emotion – Relation – Gesellschaft

38. Jahrgang, Heft 2 / 2024 95

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