Die Wiederentdeckung der Beziehung

Ein Paradigmenwechsel im psychoanalytischen Gegenwartsdiskurs

Zusammenfassung

Ein wenig verspätet und immer noch zögernd vollzieht die zeitgenössische Psychoanalyse, was wir ihre intersubjektive Wende oder ihren »relational turn« nennen (Altmeyer/Thomä 2006). Dieser Prozess lässt sich als Modernisierung psychoanalytischer Theorie und Praxis verstehen. Schulenübergreifend beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass das Seelenleben des Menschen bis in seine unbewussten Tiefen hinein mit der sozialen Umwelt verbunden und auf andere Menschen bezogen ist: Die Psyche selbst ist intersubjektiv verfasst. Damit schließt sich die Wissenschaft vom Unbewussten einer Einsicht in die conditio humana an, die in den Humanwissenschaften disziplinübergreifend wächst und inzwischen weitgehend Anerkennung findet: Der Mensch ist keine Monade, kein isoliertes Einzelwesen, das sich, der Not des Lebens gehorchend und im Grunde widerstrebend, aus einem seligen Zustand des primären Narzissmus in die ernüchternde Welt der Objektbeziehungen begibt, sondern von allem Anfang an ein soziales Wesen, das mit anderen zusammen nach Welterfahrung sucht und diese dazu nutzt, seine psychische Binnenstruktur auszubilden. Die metapsychologischen, entwicklungstheoretischen und klinischen Folgen dieses Paradigmenwechsels beschreibe ich unter drei verschiedenen Blickwinkeln. Unter einer historischen Perspektive lässt sich die intersubjektive Wende der Psychoanalyse als ein Modernisierungsprozess skizzieren, der weg von der Triebpsychologie führt und hin zu einer relationalen Psychoanalyse, die, indem sie das Zwischenmenschliche wiederentdeckt, bestimmte Strömungen aus der langen Geschichte psychoanalytischer Dissidenz rehabilitiert (1). Unter einer metapsychologischen Perspektive geht es darum, sich von der »Amöbensage« zu verabschieden, die das Seelenleben des Menschen aus seiner ursprünglichen Vereinzelung hervorgehen ließ, und stattdessen die primäre Intersubjektivität der menschlichen Existenz anzuerkennen (2). Schließlich rückt unter einer therapeutischen Perspektive die lebendige Beziehung zwischen Analytiker und Analysand, die im triebpsychologischen Modell weitgehend auf eine reine Übertragungsbeziehung reduziert war, ins Zentrum der Aufmerksamkeit (3). Es bleibt dem Leser überlassen, die Verbindung zu Entwicklungen innerhalb der modernen Gestalttherapie zu ziehen und entsprechende Vergleiche anzustellen.

Abstract

Rediscovering relationship. A change of paradigm in present day psychoanalytical discourse. Present day psychoanalysis could, through its inter subjective turn, reconnect again on an interdisciplinary level as a scientifically based theory of personality. If human emotions and feelings are determined from birth by being embedded in the social environment – via interactive feedback loops, forms of mirroring and resonating and identification and counter identification with another – then one can no longer look at »drives« as being responsible for the development and disturbances of the self, but rather one has to look to relationships. Thus, via the paradigm of inter subjective turn, the therapeutic relationship returns to the centre of clinical theory and practice. In this article we discuss the fare well to the »amoebic state«, the development of the psychology of drives to an object relations theory and the role of the analyst from the position of a neutral observer to an engaged participant of a lively interaction, and describe this development as steps of modernisation of present day psychoanalysis. Those dissidents, who in former times have been branded as »heretics«, were instrumental in this change. Psychoanalytic modernity no longer looks at empiricism to evaluate its own meta psychological and clinical concepts. It opens itself up to dialogue with non-psychoanalytic approaches with whom it has this insight in common: the quality of the therapeutic relationship is essential in psychotherapy.

Gestalt und Psychoanalyse

24. Jahrgang, Heft 1 / 2010 Seite 15 – 22

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